Ist die Würde des Menschen unantastbar? Wie sehen die ca. sieben Millionen Zuschauer des vergangenen ARD-Events „Terror – Ihr Urteil“ dieses Grundrecht?
In einem Gedankenexperiment sollten die Zuschauer im heimischen Wohnzimmer die Rolle von Schöffen einnehmen. Dabei sollte über die Schuld oder Unschuld des Luftwaffenmajors Lars Koch geurteilt werden.
In der Verfilmung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach kapern Terroristen ein Passagierflugzeug, das sich auf dem Flug von Berlin nach München befindet. Die Terroristen drohen damit, das Flugzeug in die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena stürzen zu lassen. Entgegen dem Befehl der Leitstelle entschließt sich Major Koch das Flugzeug abzuschießen und alle 164 Passagiere zu opfern. Für den Abschuss der Maschine muss er sich vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft plädiert auf Mord, die Verteidigung sieht in Koch einen Helden und verlangt einen Freispruch.

Als Jurist gestaltete Schirach sein Stück so, dass die rechtsphilosophischen Fragen bis ins kleinste juristische Detail durchgespielt wurden [1]. Im Laufe des Films ist es an den sieben Millionen Zuschauern, über Schuld oder Unschuld zu urteilen. Bevor wir auf das Ergebnis eingehen, wollen wir einige juristische sowie moralische Aspekte dieser Fiktion beleuchten. Physikalische Gegebenheiten wie Absturzwinkel, Explosionsradius oder sonstige Ungereimtheiten dieses Szenarios lassen wir bewusst außen vor.
Was zunächst logisch klingt – nämlich 164 Menschen zu opfern, um 70.000 zu retten – ist mitnichten durch eine einfache mathematische Verrechnung zu rechtfertigen. Letztendlich sind Menschenleben keine Güter, die sich gegeneinander aufwiegen ließen. So sieht es auch die Rechtsprechung. Am 15. Februar 2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die durch die rot-grüne Bundesregierung verabschiedete Abschussermächtigung im Luftsicherungsgesetz als verfassungswidrig. Im Urteil des BVerfG zur Verrechnung von Menschenleben heißt es: „Auch der Staat […] behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch […] verdinglicht und zugleich entrechtlicht […]“ [2] Die Würde einer Minderheit ist auch dann zu schützen, wenn durch ihre Tötung die Hoffnung besteht, eine Mehrheit zu retten.
In der Ethik spricht man vom strikten Konsequentialismus. In dieser rein rationalen Denkstruktur gibt es nur eine moralische Rangordnung: die quantitative Maximierung des erwarteten Ergebnisses. Auf das oben genannte Beispiel bezogen hat der Kampfpilot strikt konsequentialistisch gehandelt. Rational betrachtet war es die richtige Entscheidung, schließlich hat er vermeintlich Tausenden das Leben gerettet. Da gibt es nur ein Problem: Konsequentialistische Ethik und persönliche Integrität (Verwirklichung eines guten Lebens), individuelle Rechte (das Recht auf Schutz) und Sittlichkeit sind nicht vereinbar [3]. Das heißt, die Tugenden einer Gesellschaft, ihre Werte, stehen auf der einen Seite und die Erwartungsmaximierung (konsequentialistische Rangordnung) auf der anderen.
Um diese These greifbarer zu machen, ein kleines Beispiel: Ein Schulbus gerät in einen verheerenden Unfall und zehn Kinder erleiden lebensgefährliche Verletzungen. Zum gleichen Zeitpunkt wird aus einer naheliegenden Justizvollzugsanstalt (JVA) ein verurteilter Straftäter (wegen Kindesmissbrauch) mit einem schweren Schädelhirntrauma eingeliefert. Zufälligerweise stimmt die Blutgruppe des JVA-Sträflings (Lebenserwartung ca. 30 Jahre) mit vier der Kinder (Lebenserwartung ca. 280 Jahre) überein. Durch eine Organtransplantation können die vier Kinder gerettet werden, doch der JVA-Sträfling stirbt. Unterlässt man die Transplantationen, überlebt der JVA-Sträfling, doch die Kinder sterben. Wie würden Sie sich entscheiden? Wie würden Sie sich fühlen, wenn nach der Transplantation festgestellt würde, dass der Mann unschuldig war?
In einer konsequentialistischen Gesellschaft wäre die rationale und quantitative Maßnahme die Organentnahme. Dabei spielt der Hintergrund des Menschen nicht einmal eine Rolle. In Anbetracht der Lebenserwartung des Individuums im Vergleich zur Mehrheit, obsiegt die Mehrheit. Realistisch betrachtet ist es unvorstellbar, dass in einem Krankenhaus Menschen, die geringe Überlebenschancen haben, gegen ihren Willen als Organspender dienen. Selbst wenn Sie tot sind, bleibt ihre Würde unantastbar: Ohne ihr ausdrückliches Einverständnis dürfen keine Organe entnommen werden. Ein Arzt, der nach oben genannter These handelt, ist in den Augen der Gesellschaft ein Mörder.
Sowohl die Justiz als auch die Philosophie halten diese präventive Tötungsmaßnahme für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Kommen wir zurück zum ARD-Event. Die Mehrheit der sieben Millionen Zuschauer entschied sich für einen Freispruch des Majors Koch. Insgesamt waren 86,99 %, also 6,88 Millionen Menschen, der Meinung, er habe moralisch richtig gehandelt.
Doch woran liegt es, dass Menschen, die einen Arzt verurteilen würden, einen Kampfpiloten freisprechen? Theoretisch betrachtet handeln beide nach der gleichen These. Es kann am konsequentialistischen Denken dieser Menschen gelegen haben, die sich damit gegen moralische Tugenden und die guten Sitten entschieden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass viele Menschen im Westen durch Medien und Propaganda ihre ethische Bildung beziehen. Ich weiß es nicht. Kaum ein Bundesbürger und vor allem nicht diejenigen, die das Abendland retten wollen, beschäftigen sich mit der theologischen Ethik des Christentums. Das Stück wurde vom 20.02.2016 bis zum 18.09.2016 im Staatstheater Oldenburg gespielt. Insgesamt 19-mal. In jeder Vorstellung wurde der Kampfpilot durch die Besucher freigesprochen.
Der Zeitpunkt der Ausstrahlung ist ebenso besorgniserregend wie das Ergebnis der Abstimmung. Fast jeder politische und wirtschaftliche Analyst spricht von einem aktuellen dritten Weltkrieg, der auf dem Wirtschaftssektor ausgetragen wird. Die wirtschaftliche Schieflage der USA und ihre Rezession zwingen sie dazu, einen Krieg voranzutreiben, um an der Weltspitze zu bleiben.
[1] http://staatstheater.de/terror.html
[2] http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2006/bvg06-011.html
[3] https://epub.ub.uni-muenchen.de/5244/1/5244.pdf