Der Projektionsfehler – Denkfehler mit Folgen

Der „Projektionsfehler“ bezeichnet eine alltägliche Denkweise zwei Objekte miteinander zu vergleichen, welche mit vielen Fallen und Irrungen daherkommt. Über diese sollte man sich beim Hantieren mit so entstandenen Vergleichen im Klaren sein.

Wir beginnen mit einem Beispiel: Wie vergleicht man die Zeugnisse zweier Schüler aus derselben Klasse? Man könnte Fach für Fach vergleichen, die Fächer nach Wichtigkeit sortieren, ein komplexes Berechnungsmodell entwerfen und je nach konkreter Fragestellung ein differenziertes ausführliches Urteil über die beiden Zeugnisse gegenüberstellend formulieren. Aber all dies tut man nicht, man berechnet etwas viel Simpleres: den Notendurchschnitt. In manchen Fällen berechnet man alternativ einen sog. „gewichteten“ Notendurchschnitt, in welchem die Noten wichtiger Fächer, wie Mathematik oder Deutsch, mehrfach eingehen. Das Zeugnis mit dem besseren Notendurchschnitt gilt dann als das bessere. Dieser Vergleich der Schulzeugnisse wird für Auswahlentscheidungen herangezogen: Studien- und Ausbildungsplätze werden vor allem wegen besserer Notendurchschnitte vergeben oder wegen schlechterer verwehrt.

Ein zweites Beispiel: Wie vergleicht man die Leistungen zweier Forscher der Naturwissenschaften miteinander? Etwa durch ein breit besetztes Gremium, welches die Tiefen und Bedeutungen der Forschungsresultate miteinander vergleicht und ein differenziertes Urteil formuliert? Nein, üblicherweise nicht. Stattdessen vergleicht man einfach nur die Anzahl der Publikationen. Der Forscher mit der größeren Anzahl an Publikationen gilt als der kompetentere. Im Zeitalter elektronischer Datenauswertungen ging man vor einigen Jahrzehnten zusätzlich dazu über den sog. „Zitationsindex“ eines Forschers zu berechnen, also eine Zahl, deren Berechnung auf der Häufigkeit der Zitierungen durch andere Forscher beruht, vergleichbar mit einer Mischung aus den Anzahlen von „Likes“ und „Teilen“ eines Beitrags in sozialen Netzwerken.

Beide Beispiele folgen diesem Schema: Eine weitschichtige Menge von Eigenschaften wird mittels irgendeines Verfahrens auf eine einzige Zahl projiziert und reduziert. Bei dieser Projektion gehen notwendigerweise viele Informationen und mannigfaltige Vergleichsmöglichkeiten verloren. Was bleibt, ist nur eine Zahl, und die größere Zahl (oder die kleinere, je nach Modell) zeichnet eben unter zwei verglichenen Objekten (Zeugnissen, Forschungsleistungen etc.) das angeblich bessere aus.

projektion

Projektionen dieser Art kranken aber an zwei fundamentalen Problemen:

1. Das Ergebnis der Projektion, die eine resultierende Zahl, hängt von der gewählten Projektionsmethode ab. So ändert sich potenziell die Rangfolge zweier Schulzeugnisse, wenn man die Gewichtung der Noten variiert. Welche Projektionsmethode sollte man also wählen?

2. Noch schwerwiegender: Unabhängig von der gewählten Projektionsmethode müssen bei der Projektion Informationen verloren gehen – es gibt keine Projektionsmethode, die nicht mit diesem Mangel behaftet ist. Einzige Ausnahme ist ein Grenzfall, den man nicht als Projektion im eigentlichen Sinne versteht, nämlich der Vergleich ohnehin schon eindimensionaler Eigenschaften, zum Beispiel der Körpergröße. Die Körpergröße zweier Menschen ist eindimensional, der Vergleich mit einer einzigen Zahl ohne Informationsverlust beschrieben.

Aber schon mit einem zweiten Merkmal, beispielsweise dem Alter, ist ein verlustfreier Vergleich mittels Projektion nicht mehr möglich: Vergleichen wir einen 1-jährigen Jungen, der 75 cm groß ist, und einen 28-jährigen Mann, der 187 cm misst – welcher von beiden ist relativ zu seinem Alter größer? Noch schwieriger wird es, wenn sogar die zu beantwortende Frage qualitativer und nicht quantitativer Art ist: Wer ist der für diesen Job geeignetere Bewerber? Welche Stadt ist lebenswerter? Welches Auto ist preiswerter? Welcher Mensch als Ehepartner passender? Ganze Dienstleistungszweige verdienen ihr Geld mit projektiven Beantwortungen dieser Fragen, zum Beispiel Partnervermittlungen, welche Algorithmen einsetzen, um aus einer Unzahl als Persönlichkeitsmerkmalen durch Projektion zwei Partner zu finden, die zueinander passen sollen.

Dies alles sind nicht nur bloß beispielhafte Überlegungen, welche bei eingehenderer Betrachtung falsch sein könnten (Naturwissenschaftler und Informatiker bezeichnen dies als „nur Philosophie“), sondern lässt sich durch harte Mathematik eindrucksvoll beweisen. Es gibt mehrere bekannte Theoreme, die diesen Informationsverlust von Projektionen genau beschreiben: aus der Geometrie beim Übergang auf eine niedrigere Dimension, aus der Algebra bei der Anordnung mehrdimensionaler Zahlenräume (komplexe Zahlen u.a.).

Diesen Nachteilen steht aber auch ein gewaltiger Vorteil von Projektionen zu Vergleichszwecken gegenüber: die Einfachheit. Ist eine differenzierte Gegenüberstellung der körperlichen Fitness zweier Menschen einfacher, oder das Berechnen des BMI (Body-Mass-Index)? Die Einfachheit führt außerdem zur Algorithmisierbarkeit: Eine Abfolge von Berechnungen, sei diese noch so ausgetüftelt, führt zu einem Vergleich mit stets reproduzierbarem Ergebnis, unbestechlich, absolut objektiv – während ein differenzierter Vergleich von den Vergleichenden abhängt, mithin nicht reproduzierbar oder unbestechlich sein muss, und hochgradig subjektiv ausfallen kann. Außerdem lässt sich ein Algorithmus in einen Computer programmieren. So findet man die perfekte Partnerin mit nur wenigen Mausklicks – wenn das beschriebene Problem des Informationsverlustes nicht wäre.

Diese Algorithmisierbarkeit der Projektion bringt noch andere Verführung mit sich, nämlich das Abgeben der Verantwortung an eine Projektion. Im weitesten Sinne kann man auch die missbräuchliche und inflationäre Anwendung der sog. „Istichara“ dazurechnen.

Der Projektionsfehler taucht immer und überall auf, wo Statistiken eine Rolle spielen: Welcher Mensch ist intelligenter? Welche Ausländer aus welchem Land nutzen Deutschland mehr als sie Kosten? Welche Religion bringt mehr Terrorismus hervor?

Der Wahn nach Projektionen wird in unseren Tagen immer stärker, und so werden immer neue Kennzahlen konstruiert, die angeblich eindeutig einen Vergleich zweier vielschichtiger Größen ermöglichen sollen.

Dieser Artikel soll nicht von Projektionen per se abraten, manchmal sind diese notwendig und nützlich. Aber man sollte schon genauer untersuchen, wie die Projektionsergebnisse zustande gekommen sind, und ob sie für den gewünschten Vergleich wirklich die geeignetsten sind. Mithin spricht selbst bei scheinbar geeignet Projektionen nichts gegen die entgegengesetzte Entscheidung – denn den Projektionsfehler gibt es immer, und er ist im Vorfeld kaum schätzbar.

Der Projektionsfehler – welcher nicht den Informationsverlust meint, den eine Projektion mit sich bringt, sondern den Denkfehler, dass eine Projektion immer und überall zur Entscheidung zu führen hätte – ist ein Beispiel einer größeren Klasse von Denkmustern, die ich als „Zentralisationsfehler“ bezeichne, und welche in ihren vielen Erscheinungsformen unser Denken und Handeln maßgeblich beeinflusst, bis hin zur Suche nach der Wahrheit. Dazu dann mehr in einem späteren Beitrag, inschallah.