Dhikr auf der Autobahn

Dhikr auf der Autobahn

Dicke Tropfen trommelten auf die Scheibe, die Autobahn schwamm, der Wagen wackelte im Sturm. Muhsin hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest. Aber er verlangsamte die rasante Fahrt nicht, denn Scheich Stefan musste rechtzeitig zur Veranstaltung »Der deutsche Islam« im Islamischen Zentrum Hamburg eintreffen.

Der Scheich flüsterte mit gesenktem Kopf: »Allahu akbar, allahu akbar, allahu akbar …«

»Scheich, keine Angst!«, sagte Muhsin. »Warst du lange nicht mehr in Deutschland? Das ist ein normales Gewitter. Du musst nicht für unsere Sicherheit beten.«

»Alhmadulillah, alhamdulillah, alhamdulillah …«, wiederholte der Scheich.

»Genau, alhamdulillah«, sagte Muhsin. »Mach dir keine Sorgen.«

Da blickte Scheich Stefan auf. »Verzeih, hast du etwas gesagt?«

»Du musst Allah (swt.) nicht wegen dem Gewitter anflehen.«

»Meinst du den Dhikr, das Gottesgedenken? Den spreche ich nicht aus Angst.« Er schmunzelte. »Ich vertraue deinen Fahrkünsten und hoffe auf Gott.«

»Dann ist ja gut. Ich befürchtete schon, du wärst im Iran abergläubisch geworden, manche Gelehrte sind das. Sie murmeln mit ihren Gebetsketten den ganzen Tag Zauberformeln vor sich her und glauben, dass sie Gott damit näherkommen.«

»Das glaube ich auch.«

»Scheich … die Muslime in Deutschland sind gebildet, Studenten, Akademiker. Du wirst gleich vor Männern und Frauen sprechen, die den Islam mit ihrem Verstand begreifen und keinen Wert auf Hokuspokus legen.«

Scheich Stefan faltete seine Gebetskette und legte sie in die Ablage der Beifahrertür. »Dhikrs sind keine Zaubersprüche, Muhsin. Imam Ali (a.) sagt in Nahdsch-ul-Balagha, dass sie ein Reinigungsmittel für das Herz sind. Er empfiehlt uns, mit der Zunge bestimmte Lobpreisungen zu wiederholen, um den Schmutzbelag über unserem verstockten Herzen abzureiben, damit es frei atmen und die Rechtleitung Allahs sehen kann.«

»Imam Ali (a.) war ein Ma’sum«, entgegnete Muhsin. »Ich kenne Gelehrte, die ständig Dhikrs brummeln und Imam Mahdi sowie seinen Stellvertreter bekämpfen. Dhikrs sind vielleicht eine Empfehlung für Heilige. Aber wir haben ganz andere Probleme.« Aufgebracht setzte er den Blinker und überholte einen LKW.

»Nein, nicht nur für Heilige«, sagte Scheich Stefan ruhig. »Sie sind ein wichtiges Werkzeug für uns alle. Allah (swt.) spricht im Qur’an von den Männern, die sein Licht empfangen, die sich nicht einmal durch Geschäfte vom Dhikr abhalten lassen und die sich mit ihrer Zunge beständig an Gott erinnern. Das ist ein großartiges Geschenk. Sprich jeden Tag hundertmal »la ilaha illallah« und du wirst Gott mit dem Herzen sehen, hören und dich von ihm leiten lassen, wie es deinem Verstand alleine niemals gelingen würde.«

»Und was ist mit den Chawaridsch?« Muhsin lockerte seinen Griff am Lenker. »Sie wurden beschrieben als Leute, deren Lippen wegen den vielen Dhikrs spröde und deren Stirne und Knie wegen den häufigen Niederwerfungen zerschlissen waren. Also Heilige mit reinen Herzen. Trotzdem bekämpften sie Imam Ali (a.). Offenbar nützen Dhikrs nichts.«

»Hast du genug getankt?«, unterbrach ihn Scheich Stefan.

»Ja, warum fragst du?«

»Ein Auto ohne Räder kann nicht fahren, selbst wenn es vollgetankt ist. Bedeutet das, dass Benzin nutzlos ist?«

»Es bedeutet, dass Dhikrs nicht ausreichen!«

»Da hast du recht, Muhsin. Aber sie sind immens wichtig, beruhigen unsere Herzen. Unterschätze sie nicht. Probier es aus und sprich jeden Tag den Dhikr von Fatima Zahra: vierunddreißigmal allahu akbar, dreiunddreißigmal alhamdulillah und dreiunddreißigmal subhanallah. Du wirst über die Wirkung erstaunt sein und nach einiger Zeit mehr Dhikrs sprechen wollen.«

»Vielleicht mache ich das«, sagte Muhsin. »Du bist kein typischer Deutscher, oder?«

»Deutsche versuchen, mit dem Verstand herauszufinden, was ihnen nützt, und handeln danach«, antwortete Scheich Stefan. »Bürokratisch abgezählte Dhikrs sind eine unerschöpfliche Energiequelle – und kostenlos. Also genau das Richtige für uns Deutsche.«