Ahmed, 23 Jahre alt, Student, Muslim, unverheiratet, für sein Studium von zu Hause ausgezogen. Er sieht sich als Anhänger der Islamischen Revolution. Schauen wir uns mal einen Tag in seinem Leben aus seiner Sicht an:
Samstagfrüh, 7:00 Uhr, mein iPhone weckt mich mit einem unerträglichen Ton. Ich öffne meine Augen. Da ich zu müde bin, um aufzustehen, checke ich, was so im Web los ist – auf meinem iPhone, versteht sich. Zuerst Facebook, dann WhatsApp, heute auch mal wieder Twitter und Instagram. Und nicht zu vergessen: meine Mails in Google Mail.
Ich finde das Übliche vor: In WhatsApp haben die Brüder in der letzten Nacht hitzig über unterschwellige Botschaften in Hollywood-Filmen diskutiert. „Haha, wie die übertreiben“, denke ich mir. Bei Facebook werden mir Meldungen angezeigt über erneute Drohnenangriffe in Afghanistan, Bombenangriffe im Jemen. Ich bin sauer. „Nieder mit den USA“, kommentiere ich.
Langsam sollte ich aufstehen. Heute steht einiges an. Zu allererst meine samstägliche Sporteinheit vor dem Frühstück: fünf Kilometer Laufen. Ich hüpfe in meinen Trainingsanzug und in meine Nike-Laufschuhe. Nike finde ich cool. „Just do it“ hat mein Leben geprägt. Auf meinem iPhone starte ich die App aus den USA, die misst, ob ich tatsächlich fünf Kilometer laufe, wie schnell ich laufe, wie viel Kalorien ich verbrenne. Später werde ich, wie gewohnt, meine Ergebnisse in Facebook teilen, und eventuell noch ein Selfie von mir posten, verschwitzt, aber mit meinem typischen Selfie-Blick.
Nach dem Laufen gönne ich mir ein gutes Frühstück; ich kaufe mir für samstags gerne „frischen Orangensaft“ aus dem nahe gelegenen Supermarkt, heute gibts dazu Pancakes. Früher hießen die Dinger Pfannkuchen, aber Pancakes klingt cooler, nicht wahr? „Pancakes“, sage ich mit einem satirischen Unterton, während ich die Fertigmischung aus dem Schrank hole.
Da heute Samstag ist, ist bei mir Fast Food zum Mittagessen erlaubt, es gibt Hamburger. Das Fleisch ist vom islamischen Schlachter, Ketchup von Heinz und Hamburger-Brötchen nach amerikanischem Stil aus einem Discounter. Auf der Verpackung der Brötchen ist immer so eine US-Flagge und eine Freiheitsstatue daneben. Hamburger ist eines meiner Lieblingsessen. Amerikanische Kultur ist doch nicht so übel, oder? Nach dem Essen und Mittagsgebet chille ich mich aufs Sofa und schalte den Fernseher ein. Es laufen Wiederholungen meiner Lieblingsserien: „Navy CIS“ und „The Big Bang Theory“. Ich will lachen und habe keine Lust, mir über Mord und Totschlag Gedanken zu machen, also bleibe ich bei „The Big Bang Theory“. Diese Serie hat was.
Ich schaue amerikanische Serien und Filme, seitdem ich zwei oder drei Jahre alt bin. Früher waren es Zeichentrickfilme von Walt Disney, später schaute ich liebend gern „Die Simpsons“. Wenn ich jetzt an Simpsons denke, bekomme ich irgendwie Lust auf Donuts. Bei uns in der Nähe gibt es eine Mall, da verkaufen sie Donuts in allen möglichen Variationen. Ob ich es heute noch mit dem Bus dorthin schaffe, bevor ich zur Trauerveranstaltung in die Moschee fahre? Es ist jetzt 15 Uhr, die Veranstaltung beginnt in zwei Stunden. „Just do it“, denke ich mir. Alles klar, auf gehts: Levi’s Jeans angezogen, Tommy Hilfiger Hemd, schwarz versteht sich, weil ja heute Trauerveranstaltung ist, für Imam Hassan, wenn ich mich nicht irre, „Imam-Schal“ über die Schultern, wegen der Trauer den dunkelblauen mit weißen Streifen, man muss ja zeigen, dass man die Revolution und den Imam liebt, rein in die Timberland-Schuhe, mein iPod nicht vergessen, Kopfhörer rein, Latmiyyas an, los geht’s.
Auf dem Weg bin ich wieder bei Facebook unterwegs. Und natürlich bei WhatsApp. Die Brüder diskutieren immer noch über den Einfluss von Filmen auf uns. Ich glaub, ich schicke denen gleich ein Selfie, wie ich Donuts esse. Kaum in der Mall angekommen hetze ich zum Donut Laden, „Dunkin’ Donuts“, bestelle mir verschiedene Donuts englischer Bezeichnung, mache mein Selfie und schicke es ab. Die Brüder antworten mit Smileys, einer schreibt sarkastisch: „Donuts sind haram.“
Danach mache ich noch einen Abstecher zu Starbucks, um mir dort meinen obligatorischen Samstagnachmittag-Coffee-Latte zu holen. Ich finde das irgendwie cool, wie die in den US-Serien immer mit ihren Kaffeebechern rumlaufen. Auf dem Weg dorthin treffe ich eine Schwester, die ich aus der Uni kenne. Wir sind gute Freunde.
„Salamu aleikum, Schwester“, begrüße ich sie, in dem ich meine rechte Hand auf die Brust lege und mich leicht verneige.
„Salamu aleikum, Bruder“, antwortet sie.
„Wie geht’s dir, Schwester? Was machst du so?“, frage ich sie teils aus Höflichkeit, teils aus Interesse.
„Alhamdulillah, und dir? Ich musste hier in der Shopping-Mall etwas besorgen, bevor ich in die Moschee gehe“, sagt sie.
„Ah, du willst in die Moschee? Ich gehe auch da hin, aber ich wollte mir hier eben noch einen Kaffee holen.“
„Hier bei Starbucks?“, entgegnet sie, „Ahmed, das ist doch zionistisch.“
„Zionistisch?“, frage ich, „bist du sicher?“
„Sicher bin ich nicht, aber letztens meinte eine Schwester, dass sie „Israel“ unterstützen würden.“
„Wenn ich danach gehen würde, was ich alles höre, dann könnte ich nichts mehr essen und trinken, oder aus dem Haus gehen, weil ja alles und jeder „Israel“ unterstützt.“
„Ganz so ist das nicht.“
„Ach, ich hol mir jetzt einfach einen Kaffee, ich hab ja bisher keinen Beweis gesehen. Vielleicht überprüfe ich das später im Web.“
„Wenn du meinst, Bruder. Das musst du entscheiden.“
„Soll ich dir was von dort mitbringen, oder kann ich dir einen Donut anbieten? Dunkin’ Donuts macht die Besten.“
„O ja, einen Donut nehme ich gerne.“
„Willst du kurz warten? Dann können wir zusammen zur Moschee gehen.“
„Gerne.“
Als ich aus Starbucks rauskomme, halte ich zwei Kaffeebecher in der Hand. „Hier bitte schön.“
„Aber ich wollte gar keinen.“
„Als ich dich fragte, hast du nicht abgelehnt. Und ich fände es unhöflich von mir, wenn ich alleine einen Kaffee trinke und du zuguckst.“
„Oh, vielen Dank, das ist aber lieb von dir,“ sagt sie und nimmt den Kaffee.
Auf dem Weg zum Bus plaudern wir über das Studium, die Uni, über die heutige Veranstaltung, über islamische Aktivitäten und machen ein paar Witze über dieses und jenes. Da wir schlendern, verpassen wir unseren Bus und müssen den Nächsten nehmen. Das kostet uns eine halbe Stunde. Aber wie unsere Leute so sind, ist bei unserer Ankunft in der Moschee ohnehin noch nichts los. Ab hier trennen sich unsere Wege wieder, denn in der Moschee sitzen Frauen und Männer getrennt. Schon komisch diese Trennung, wo man doch eben noch so freundschaftlich miteinander lachte.
Heute spricht ein Sayyid in der Moschee, den ich sehr mag, weil er revolutionär ist. Er ist direkt, scheut keine Kritik. Er redet darüber, wie sehr Imam Hassan von seinen eigenen Anhängern unterdrückt wurde. Ich muss weinen. „Auch heute ist der 12. Imam unterdrückt“, fährt er auf Arabisch fort, „wir sagen, wir wären auf seiner Seite, aber eigentlich betrügen wir nur uns selbst“. Ich muss noch mehr weinen. „Der Westen hat uns voll im Griff. Und wir merken es nicht mal. Wir befinden uns im Krieg, aber wir merken es nicht. Sie beherrschen unsere Denk- und Lebensweise.“ Was für eine Aussage. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, und poste per iPhone dieses Zitat in Facebook mit den Hashtags #KulturinvasionDesWestens, #Amerikanisierung.
Nach der Veranstaltung bin ich mit einigen Brüdern verabredet. Wir wollen in die Shisha-Bar, ein bisschen den Tag ausklingen lassen, bei Shisha und Tee. Ich trinke zur Shisha gerne Cola, aber nicht Coca-Cola, die boykottiere ich, weil die „Israel“ unterstützen. Stattdessen bestelle ich Pepsi, die sind in Ordnung. Im Libanon trinkt ja auch jeder Pepsi. Wir lachen viel, reden übers Heiraten, ein wenig über Politik, über Sport, über verschiedene Latmiyyas, wir zeigen uns gegenseitig neue Videos auf YouTube über die militärischen Fortschritte des Islamischen Widerstands in Syrien. Der Abend ist lang, bis nach Mitternacht.
Zuhause angekommen bin ich zu wach, um einzuschlafen. Ich suche nach einem Film in meiner DVD-Sammlung, bei dem ich einschlafen kann, weil ich ihn zu gut kenne. Ich entscheide mich für „Tribute von Panem“, Teil 1. Ich liebe diesen Film, weil er politisch ist, er kritisiert das System. Klar, ist aus Hollywood, aber trotzdem. „Was wäre, wenn niemand zuschauen würde“, sagt Gale in einer der Anfangsszenen über die vom System organisierten Hungerspiele. Ich vernehme diesen Satz fast in Trance und schlafe ein.
Stellt sich zum Schluss die Frage: Ist Ahmed wirklich ein Revolutionsanhänger?