Begriffsdefinition
Unter einem „Geistlichen“ verstehen wir einen traditionell ausgebildeten islamischen Theologen, der an einer theologischen Hochschule studiert hat, und dem nach Abschluss dieses Studiums von einem Faqih (Gelehrter, Rechtsgelehrter, wir benutzen diese beiden Begriffe synonym, siehe Eslam) eine Lehrbescheinigung als „Huddschat-ul-Islam“ ausgestellt wurde – ab dieser Stufe wird er üblicherweise die Amama (Turban) öffentlich tragen, um als Geistlicher erkannt zu werden. Bis zum Abschluss dieses Grades ist es ein weiter Studiumsweg, üblicherweise ca. 10 Jahre, mit weitläufigen Vertiefungen und einem breiten islamischen Hintergrundwissen.
Als einen „Laien“ bezeichnen wir für die Zwecke dieses Artikels jeden Muslim, der kein Geistlicher ist. Insbesondere sind also fast alle Mitglieder einer Gemeinde in diesem Sinne Laien, ebenso alle Autoren dieser Plattform (Offenkundiges.de), unabhängig von Bildungs- oder Ausbildungsgrad, Erfahrungen etc.
V.l.n.r.: Ein bekannter Geistlicher und ein Laie.
(Sayyid Nasser al-Hassani und Yavuz Özoguz)
Die aktuelle Situation in Deutschland
In Deutschland leben und wirken ca. 50 Geistliche. Von diesen sprechen keine zehn problemlos umgangsfähiges Deutsch, keine fünf arbeiten regelmäßig auf Deutsch. Bei gleichzeitig geschätzten ca. 700.000 Schiiten in Deutschland haben wir relativ also extrem wenige Geistliche, die Zahl der auf Deutsch wirkenden ist traurig – selbst wenn von den 700.000 Schiiten nur ein Bruchteil ein islamisches Angebot jeglicher Form überhaupt annehmen würde.
Von diesen 50 Geistlichen führen nur wenige wieder eine eigene Gemeinde, entsprechend werden die geschätzt 200 schiitischen Gemeinden von Laien aufgebaut und geleitet, bis auf wenige bekannte Ausnahmen. Laien planen und führen Veranstaltungen durch (inzwischen immer mehr auch auf Deutsch), Laien engagieren sich im Internet bei der Erstellung islamischer Plattformen und Angebote jeglicher Art, Laien halten die Reden bei islamischen Treffen und vertreten auch den Islam nach außen in der Gesellschaft, verteidigen ihn, laden zu ihm ein, kommentieren tagespolitisches Geschehen und gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen aus islamischer Sicht. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist insbesondere die öffentliche Vertretung des Islam, sei es nun im Rahmen einer Rede vor der Gemeinde, in Form eines Artikels im Internet, oder auch in Form der Vertretung des Islam gegenüber der deutschen Gesellschaft insgesamt, fest in „Laienhand“. Geistliche sind, insbesondere auf Deutsch, nur verschwindend selten daran beteiligt.
Dieser Umstand hat nun verschiedene Gründe, deren wichtigster die sehr geringe Anzahl der Deutsch sprechenden Geistlichen ist. Ich persönlich komme zu dem Schluss, dass die native deutsche Sprache für einen Geistlichen in Deutschland letztlich alternativlos ist und seine Wirkungskraft um ein Vielfaches erhöht. Einen Ausgleich durch Übersetzung halte ich für ausgeschlossen. Es gibt dazu aber auch andere Ansichten.
Das Thema „Sprache“ wollen wir aber von dieser Stelle an nicht weiter betrachten und uns allgemein die Frage stellen, was davon zu halten ist, dass Laien den Islam durch öffentliches Auftreten und Wirken der verschiedensten Formen vertreten.
Argumente für das öffentliche Auftreten von Laien
Zunächst einmal impliziert unsere Definition eines „Laien“ nicht, dass sein islamisches Auftreten (Rede, Artikel, Diskussion etc.) inkompetent wäre. Sehr wohl kann ein solches Auftreten auch ohne zehnjähriges Hauza-Studium kompetent sein und seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen. Ein Laie kann auch in einem islamischen Thema (und welches Thema ist nicht islamisch aufbereitbar?) selbstredend einem Geistlichen überlegen sein, dies ist nichts Außergewöhnliches und auch kein Mangel des Geistlichen, sondern liegt in der Natur der Sache, wenn wir de facto alle Themengebiete des Wissens zulassen. Bei Bedarf können wir gerne Beispiele besprechen (in der Diskussion zu diesem Artikel, s.u.). Ebenso besitzt ein Laie vielleicht ein rednerisches oder schriftstellerisches Talent, welches nicht jeder Geistliche besitzt und auch nicht besitzen kann oder muss; gepaart mit dem jeweils notwendigen islamischen Wissen kann dies für alle Muslime und auch Nichtmuslime sehr wertvoll sein.
Darüber hinaus können Laien neue Sichtweise und Elemente mit einbringen, welche auch für Geistliche wertvoll sind. Warum sollte ein Geistlicher in einer Veranstaltung nicht auch einem Laien zuhören?
Zweifellos sollte nicht jeder Laie eine Rede halten, einen öffentlichen Artikel selbstständig veröffentlichen oder dergleichen, aber die möglichen prinzipiellen Vorteile im Auftreten einzelner Laien sind deutlich.
Argumente gegen das öffentliche Auftreten von Laien
Was aber, wenn ein Laie Falsches veröffentlicht? Ist das dann nicht schädlich für den Islam? Was ist, wenn er Muslime dazu bringt, ihre Religion zu missverstehen, wenn er Dinge miteinander vermischt, Dinge falsch interpretiert, es ihm einfach an islamischer Kompetenz in der Sache fehlt? Wäre es dann nicht besser, ein Geistlicher würde sprechen oder schreiben? Würde dies nicht mehr Sicherheit bieten und dieses Problem verkleinern, selbst wenn auch Geistliche nicht fehlerfrei sind? Immerhin sollte seine umfangreiche islamische Ausbildung schwerwiegende Fehler weniger häufig zulassen.
Und selbst, wenn wir das Problem möglicher Fehler beiseitelassen: Ist die Stellung der Geistlichen in der Gemeinde nicht gerade die Führung? Sind sie nicht die kompetentesten Leiter, auch die kompetentesten Dialogpartner für Nichtmuslime? Sollten nicht in erster Linie sie den Islam vertreten, vielleicht auch exklusiv?
Grenzen für Laien
Es gibt nun eine Reihe von Vorschlägen, wie sich Laien in dieser Thematik zu verhalten hätten. Ein Vorschlag ist, dass Laien in ihrem Auftreten nur Fuqaha (Gelehrte) oder Geistliche zitieren sollten, um sicherzugehen, nicht Falsches von sich aus zu verbreiten.
Dazu sind zwei Dinge festzustellen:
1. Zumeist geschieht genau das. Auch wenn nicht immer der Name eines Faqihs explizit genannt wird, gar eine genaue Quelle angegeben wird, so entstammen doch die meisten islamischen Ansichten und Behauptungen eines Laien einem Faqih, meist in Form seiner Vorträge oder Bücher. Ist nun jedes Auftreten eines Laien notwendigerweise ein wissenschaftliches, dass nach jeder Aussage eine Quellenangabe zu erfolgen hätte? Ist dies sinnvoll? Meiner Ansicht nach nicht.
2. Was ist mit notwendigen Transferleistungen? In der deutschen Schule gilt die „Transferleistung“, also die Übertragung von Wissen auf ein verwandtes Gebiet, als eine der wesentlichsten Leistungen eines Schülers. Eine solche Transferleistung muss auch einem Laien gestattet sein: Vielleicht kann er auf die aktuelle Fragestellung nicht direkt eine explizite Aussage eines Faqihs anwenden, aber er kann durch eine Transferleistung zu einem Schluss kommen und diesen veröffentlichen. Natürlich spielt dann seine Subjektivität erheblich mit hinein. Ganz genauso, als wenn ein Geistlicher es tut. Ist dies per se ein Problem, nur weil er ein Laie ist?
Meiner Meinung nach gibt es nur eine Grenze für den Laien, welche ebenso eine Grenze für den Geistlichen darstellt, der kein Faqih ist: Das Postulieren von eigenen handlungsweisenden Rechtsfindungen ist ihm nicht gestattet. Dies ist die exklusive Aufgabe des Faqih (und selbst dieser sollte nicht jede seiner Rechtsfindungen ohne Weiteres veröffentlichen, aber das ist ein anderes Thema). Ansonsten sehe ich keine Grenze: Warum sollte ein Laie beispielsweise nicht für einen Qur’anvers eine bestimmte Interpretation vorschlagen, ihn in einem bestimmten Kontext anführen, einen Übersetzungsvorschlag bringen und dies auch veröffentlichen, solange er keine Handlungsanweisung postuliert oder gar Fatwas ausspricht? Warum sollte er nicht Gesellschaft und Tagespolitik, Wirtschaft und Familie, Spirituelles und Materielles aus seiner Sicht mit islamischen Argumenten, so wie er sie versteht, kommentieren und erläutern?
Monopoldenken und Diskussionskultur
Obige rhetorische Fragen zu möglichen Falschaussagen durch Laien implizieren eine Denkweise der Muslime, die zu den großen Schwächen der muslimischen Kultur gehört: die fehlende Diskussionskultur, das sehr schwache kritische Denken. Natürlich kann ein Laie Falsches veröffentlichen über den Islam. Aber er kann auch korrigiert werden! Man kann darüber diskutieren, Experten hinzuziehen und analysieren, wenn es etwas zu analysieren gibt. Warum diese Scheu vor Diskussion? Muss denn jede Aussage immer perfekt sein? Ist denn jede Aussage eines Geistlichen perfekt und fehlerfrei? Und wenn dann wirklich ein Laienprediger einfach zu viel Unsinn redet: Dann ladet ihn doch einfach nicht mehr als Redner ein, lest doch seine Texte nicht oder widersprecht!
Neben der fehlenden Diskussionskultur befürchte ich hinter manchen Argumenten auch ein unbewusstes Monopoldenken: Der Islam soll ausschließlich durch Geistliche vertreten und vorgestellt werden – alle anderen sollen den Mund halten! Was tun, wenn es keinen kompetenten Geistlichen zur Vertretung des Islam in einem bestimmten Kontext gibt? Antwort: Dann lieber niemand, als dass ein Laie irgendetwas erzählt!
Diese Sichtweise ist die seit Jahrhunderten vorherrschende. Und sie hat uns seit Jahrhunderten nicht vorangebracht.
Darüber hinaus fehlt uns ein kritisches Bewusstsein: Man sollte alle Äußerungen und Reden kritisch hinterfragen, egal ob sie nun von einem Geistlichen stammen oder einem Laien. Man nimmt nicht Aussagen nur wegen eines Turbans an! Wo bleibt die sachliche inhaltliche Auseinandersetzung? Besitzen wir etwa nicht die Fähigkeit, selbst zu denken? Haben wir nur die Wahl komplett anzunehmen oder komplett abzulehnen? Man verstehe diesen Hinweis nicht falsch: Kritisches Denken und ein kritisches Bewusstsein bedeuten nicht, auf alles mit Kritik zu antworten, nach Fehlern zu suchen oder absichtlich Äußerungen falsch zu interpretieren, um dagegen Position zu beziehen. Aber das kritische Hinterfragen und das Analysieren sollten selbstverständlich sein! Dies ist ebenso eine Kultur, die uns Muslimen leider weitestgehend fehlt: die gesunde kritische Auseinandersetzung. Erst diese führt zur Vertiefung und kompetenteren Erfassung eines Themas.
Noch ein Wort zur Vertretung des Islam gegenüber hiesigen Nichtmuslimen, beispielsweise im Rahmen des Dialogs der Religionen: Dazu bedarf es Kompetenzen, die nicht jeder Geistliche besitzt. Abgesehen von der Sprache bedarf es einiges kulturelles und vor allem auch religiöses Hintergrundwissen über seinen Gesprächspartner. Sind denn alle Geistlichen über wesentliche Aussagen der Bibel informiert? Verstehen sie die Denkweise der hiesigen Christen und Atheisten, kennen sie ihre Argumente, ihre Fragen und ihren Hintergrund? Für die allermeisten Geistlichen heute in Deutschland lautet die Antwort: nein. Es gibt aber einige Laien, die diese Kompetenzen besitzen.
Ausblick
Die große Wichtigkeit von Geistlichen für die islamische Gemeinschaft, für die Gemeinde, ihre immense Bedeutung für die Bewahrung und Weiterentwicklung des gelebten Islams der Zeit ist unbestritten! Dies sollte klar sein. Inschallah wird es in Zukunft immermehr deutschsprachige Geistliche geben, sodass dieses leidige Thema an Gewicht verliert, auch wenn dies noch Jahrzehnte dauern wird, wie ich befürchte. Aber auch davon unabhängig halte ich Laien als Redner, Schreiber und Vertreter des Islam für unabdingbar – ihnen den Mund zu verbieten oder ihnen ausschließlich das reine Zitieren zu erlauben, halte ich für falsch. Es wäre eine Verschwendung, die Kompetenzen der Laien nicht zu nutzen und eine Schwächung der Gemeinschaft.
Ich schließe mit dem Nachsatz, dass dieser Artikel von einem Laien geschrieben ist, mithin eine Selbstbezüglichkeit aufweist. In diesem Sinne freue ich mich auf eine kritische Auseinandersetzung hier im Kommentarbereich.