Medina im zweiten Jahrzehnt nach der Hidschra. Die Schiiten bedrängten ihn. „Wir stehen zu dir, o Nachfolger des Propheten!“, riefen sie. „Erteile uns den Befehl zum Aufstand!“ Er lehnte ab, aber sie bestanden darauf. Schließlich beauftragte er seine Söhne, Hassan (a.) und Hussein (a.), seine Anhänger zu mobilisieren. Sie liefen von Haus zu Haus und benachrichtigten jene, die zum Aufstand gedrängt hatten, sich im Morgengrauen mit ihren Schwertern vor dem Haus des Imams zu versammeln. Nur fünf erschienen. Der Imam schickte sie nach Hause zurück. Als die Schiiten erfuhren, wie wenige von ihnen zu ihrem Wort gestanden hatten, bereuten sie und lamentierten; am nächsten Morgen würden sie sicher zur Stelle sein. Wieder erschienen nur jene fünf. Dies wiederholte sich ein drittes Mal. Jahre später verrieten, bekämpften und töteten die Wortbrecher den Imam. Dies war die Politik der Schiiten.
Bagdad im Jahr 183 nach der Hidschra, 122 Jahre nach Aschura. Die Schiiten begingen zu Zehntausenden die Trauerrituale von Aschura. „O Vater von Abdullah (Imam Hussein), wir stehen im Frieden mit dem, der im Frieden mit dir steht, und im Krieg mit dem, der im Krieg mit dir steht“, riefen sie inbrünstig. Vierzig Tage nach Aschura sammelten sie sich zum Trauermarsch nach Kerbela. Gleichzeitig saß der Hussein ihrer Zeit, Imam Musa al-Kazhim (a.), seit sieben Jahren im Kerker des abbasidischen Herrschers Harun. Der stellte nur zwei Soldaten ab, um den Imam zu bewachen. Keinen Schiiten kümmerte es, bis auf eine Handvoll. Schließlich vergiftete Harun den Imam und stellte seinen Leichnam zur Schau. Dann erst strömten die Schiiten zum Palast. Aber nicht, um Gerechtigkeit zu fordern, sondern um ein Trauerzelt aufzubauen und einen Trauerritus abzuhalten. Harun wusste, dass er von ihnen nichts zu befürchten hatte. Denn dies war die Politik der Schiiten.
Irak in den 1980ern. Im Nachbarland hatte die Bevölkerung die Islamische Revolution zum Sieg geführt und den Gewaltherrscher Muhammad Reza Schah Pahlavi, eine Marionette des Westens, aus dem Land gejagt. Ein Desaster für die USA. Sie befahlen ihrer zweiten Marionette, Saddam Hussein, den Iran zu überfallen. Imam Chomeini rief die Schiiten des Irak dazu auf, gegen Saddam aufzustehen, so wie er sie schon Jahrzehnte zuvor dazu aufgerufen hatte. Sie aber schreckten zurück. Saddam rief sie dazu auf, den Iran zu bekämpfen. Und die meisten folgten seinem Ruf. Unvergessen ist die Minderheit der heldenhaften Iraker, die sich widersetzte, gar zur Islamischen Republik überlief. Aber die Mehrheit gehorchte. Sie begingen Aschura und bekämpften die Flaggenträger Imam Husseins. Für die USA war es ein Leichtes, die Schiiten im Irak zu manipulieren, denn Letztere hatten die jahrhundertealte Tradition der Politik der Schiiten nicht verlassen.
London im 21. Jahrhundert. Eine Gruppe von Schiiten, geleitet aus dem Iran und unterstützt vom Westen, gründete zahlreiche Fernsehsender, die in alle Welt ausstrahlen. Ihre gemeinsame Linie: Aschura als ritueller Überbietungswettbewerb von Selbstverstümmelungen, die Islamische Republik als Feind, die Spaltung der Muslime als Agenda, der Westen als Freund. Nicht wenige Schiiten verfallen dieser Maskerade im missbrauchten Namen der Ahlulbayt (a.). Der Bewegung liegen präzise Analysen der schiitischen Politikgeschichte zugrunde.
Obige vier Beispiele der Politik der Schiiten stehen stellvertretend für hunderte Begebenheiten, in denen Schiiten scharenweise auf der Seite des Unrechts standen oder schwiegen – die Islamische Revolution und verbündete Bewegungen gelten als Ausnahmen. Angesichts der offenkundigen Politikgeschichte der Schiiten scheint es unangebracht einer Denkweise anzuhängen, die Schiiten grundsätzlich auf der Seite der Wahrheit annimmt. Dennoch hört man manche Schiiten behaupten: „Wenn es hart auf hart kommt, kannst du dich nur auf Schiiten verlassen.“ Oder: „Steh einfach zu den Schiiten, dann bist du immer auf der sicheren Seite.“ Als ob sich die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Konfession reduzieren ließe.
Einst fragte mich ein türkischer Bruder im Alter meines Großvaters: „Angenommen, der Iran und die Türkei bekriegten sich, auf welcher Seite stündest du?“ Ich erwiderte, dass ich das nicht beantworten könne, ohne die Hintergründe und Umstände des Krieges zu kennen. Wahrheit und Falschheit hingen nicht von Nationalitäten ab, meinte ich. Er verstand es nicht und vermutete eine Ausflucht. Ich gäbe bloß nicht zu, dass ich in jedem Fall auf der Seite Irans stünde, sagte er. Für ihn war die Frage mit der Staatsangehörigkeit beantwortet.
Wenn Schiiten die Unterdrückten des Bahrain und des Jemen unterstützen, allein weil sie Schiiten sind, dann werden sie Palästina im Stich lassen. Wenn sie sich als Überlegene erachten, nur weil sie sich zur Schia bekennen, dann sind sie nicht besser als Nationalisten und Rassisten. „Der Angesehenste von euch bei Gott ist der Gottesfürchtigste von euch.“ (Heiliger Qur’an, 49:13) Die Front verläuft nicht zwischen Schiiten und Nichtschiiten, auch nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Wahrheit und Falschheit. Das gilt für die Politik wie für andere Gebiete. Die Politik der Schiiten bezeugt dies – leider.
Wenn wir aber ausschließlich jene als „Schiiten“ bezeichnen, die der Definition Imam Baqirs (a.) genügen, dann fällt die Politik der Schiiten mit der Politik der Schia, der Politik der Ahlulbayt (a.) und der Politik des Islams zusammen. Er sagte: „O Dschabir (einer seiner engsten Gefährten)! Es genügt nicht, wenn jemand bloß sagt, er sei Schiit und er liebe den Propheten, seine Familie und die Imame. Bei Allah, ein Schiit ist jemand, der tadellose Frömmigkeit besitzt und den Anordnungen Allahs gehorcht. Jeder andere ist kein Schiit, ganz gleich, wie oft er behauptet, Imam Ali zu lieben, und ganz gleich, wie er sich selbst nennt. …“ (Wasa’il al-Schia, B. 2, S. 74)